HIN & WEG

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Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt.
Der Engel der Geschichte muß so aussehen.
Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte

Richtungen
Ab 20. 02. 2020 werden Carina Riedl und Dieter Kovačič 2200km von Wien nach Istanbul gehen, das ist die Östliche Balkanroute in entgegengesetzter Richtung. Andere, ihnen Entgegenkommende, dürfen das nicht.
Als beide sich zum ersten Mal über ein mögliches Projekt unterhalten, stellen sie fest, dass für sie der Antrieb eine Um- und Aufbruchsituation ist, also eine Bewegung WEG, während ihn das HIN interessiert, das gezielte, ununterbrochene Auf-Etwas-Zu.
Hauptmotiv und Grundmotorik dieses Projekts sind deshalb auf allen Ebenen zwei einander entgegengesetzte Bewegungen: das HIN und das WEG, der wachsende Abstand und die Annäherung, die Rückschau und der Blick voraus, Flucht (WEG) und Pilgerschaft (HIN), die persönliche und die politische Dimension, Richtung und Gegenrichtung.
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Beim Gehen ist eine goPro-Kamera nach hinten ausgerichtet, und nimmt in Anlehnung an Walter Benjamins Angelus Novus-Beschreibung eine Perspektive ein, die man „den Blick zurück“ nennen könnte. Es handelt sich um einen Blickwinkel, den man beim Gehen nie hat. Filmisch entsteht so eine völlig neue zweite Reise, die während des Wanderns noch im Verborgenen liegt.
Die zweite goPro-Kamera ist dagegen nach vorn gerichtet, in Richtung Istanbul, also HIN. Zum einen erlaubt das, ein Spannungsfeld zu eröffnen zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen, zum anderen, die Frage zu stellen, wie Vergangenheit integriert werden kann: aufgenommen ins Jetzt, aber den Blick nicht starr darauf gebannt, gefesselt darin, sondern beweglich.